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Ist die bedürfnisorientierte Begleitung eine Weichspülpädagogik? Warum mir das befremdlich erscheint.

„Bindung ist ein unsichtbares emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet“, so John Bowlby, Kinderarzt, Psychoanalytiker und Begründer der Bindungstheorie.

Dein Baby kommt zur Welt und bringt bereits ausreichend Fähigkeiten mit, um a k t i v sein Überleben zu sichern. Es ist schon zu diesem Zeitpunkt kompetent. Diese Fähigkeiten werden gebündelt als Bindungsverhalten bezeichnet. Also eine angeborene Bereitschaft, mit der Welt in Kontakt zu treten um Zuwendung, Schutz, Nahrung, Pflege und Unterstützung zu erhalten. Am besten zu ein oder zwei Personen, die verlässlich angesprochen werden können (Hauptbindungsperson).

Wir wissen weiter, dass die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse das Urvertrauen deines Kindes stärkt und zu einer sicheren Bindung zwischen dir und deinem Kind führt. Und noch weiter: Eine gute oder sichere Bindung ermöglicht es deinem Kind die Welt zu entdecken, selbstwirksam zu sein, seinem Autonomiestreben zu folgen und „Flügge“ zu werden.

Ist es nicht genau das, was du willst?

Was sehr rational und pragmatisch klingt genießt du in den ersten Tagen nach der Geburt – und unbedingt auch weit darüber hinaus – mit intensivem Kuscheln (Nähe), Zeit zum Kennenlernen, Stillen/Fläschchen geben und Pflege nach Bedarf deines Kindes.

Keine postnatalen Wünsche, sondern Bedürfnisse!

Es sind also keine Wünsche, die dein Baby an dich hat, wenn es weint und schreit. Es sind Bedürfnisse! Körperliche Zustände des Unwohlseins, die – langfristig erhalten – seine Entwicklung und ggf. sein Überleben gefährden könnten. Es ist in ihm angelegt diese Zustände zu kommunizieren, um Abhilfe zu erlangen. Nichts anderes tut dein Baby: es kommuniziert. Mit dir! Auch in der Nacht, wenn es vermeintlich schläft.

Die (Bedürfnis) Signale deines Babys zu erkennen, richtig zu interpretieren, prompt und angemessen darauf zu reagieren verzärteln es also keineswegs. Ich weiß, diese Meinung hält sich – Johanna Harrer sei Undank – wirklich äußerst hartnäckig. Aber im Gegenteil. Es sorgt für seine sichere Bindung und damit zur größtmöglichen Voraussetzung seine Bildungskompetenzen umfassend wahrzunehmen, um als erwachsener Mensch sein Leben selbstsicher und autonom innerhalb eines sozialen Kontextes gestalten zu können. Klingt gut, finde ich.

Klar ist: je jünger dein Kind, desto mehr haben seine Bedürfnisse Vorrang vor deinen bzw. älteren Familienmitgliedern/Personen.
Bedürfnisse über einen gewissen Zeitraum auszuhalten und hintenanzustellen, kannst du deinem Baby nicht als solches erlernen. Dieses „lernen“ erfolgt natürlich in Zusammenhang mit der Selbstregulationsfähigkeit und der Entwicklung seines gestärkten Urvertrauens, dass wenn die Not zu groß wird, Hilfe in Form der Bindungsperson zur Verfügung steht. Stichwort: Bindungssicherheit.

Ist es das wert?

Schlaflernprogramme nach Ferber beispielsweise oder Nahrungsaufnahme (Stillen/Fläschchengabe) nach Stundenrhythmus, fallen allenfalls in den Bereich der klassischen Konditionierung – das machen wir mit Tieren, aber nicht mit Menschen, die sich gesund entwickeln und selbst als wertvoll erfahren sollen.

Die Signale deines Babys zu ignorieren oder nicht bzw. adäquat darauf zu reagieren, damit es lernt, dass es „nicht immer die erste Geige im Orchester spielt“, schädigt also allenfalls die Bindung und Beziehung zwischen Euch. Ist es das wert – was denkst du?

Im Laufe der Zeit wird dein bindungssicheres Baby immer seltener die Erfüllung seiner Bedürfnisse auf eine eindringliche und lautstarke Weise, versuchen durchzusetzen. Manchmal vergisst es seine Bedürfnisse auch oder übergeht sie, weil es in der Welt so viel Neues und Spannendes zu entdecken gibt.

Dann kann es gut sein, dass Hunger und Durst jetzt gleich und sofort gestillt werden müssen, sobald es sie wahrnimmt, weil sie schon so übermächtig groß sind und nicht mehr warten können. Aber das ist völlig in Ordnung – und passiert uns Erwachsenen das nicht auch ab und an?

Wenn dein Baby in der Nacht schreiend aufwacht, dann nicht um dich um deinen wohlverdienten Schlaf zu bringen. Sondern weil es deine Nähe braucht, oder hungrig ist und durchaus beides. Weil es eben nicht weiß, dass es in seinem Kinderzimmer auch ohne den Körperkontakt zu dir sicher vor sämtlichen Wölfen und ausgestorbenen Säbelzahntigern ist, sondern dich fühlen muss, damit es diese Sicherheit erspüren kann.

Dein Baby tanzt dir nicht auf der Nase herum!

Auch wenn ich mich wiederhole: hinter dem Schreien deines kleinen Babys steht in aller erster Linie die Wiederherstellung seines Wohlseins. Mehr nicht. Keine Absicht. Weder mit zwei Wochen, noch mit sechs Monaten. Auch nicht mit fünf Jahren.

Für Absicht braucht es ein höheres Ziel, beispielsweise dir schaden zu wollen. Dein Kind liebt dich jedoch bedingungslos und wenn es kognitiv soweit ist, um verstehen zu können, dass sein Verhalten dir nicht guttut, wirst du leicht erkennen, wie schlecht es ihm damit geht und es sich schuldig fühlt, Wiedergutmachung anstrebt. Es ist entwicklungsbedingt, dass es manche Dinge trotzdem zunächst immer wieder tut, aber das wird sich verändern. Versprochen.

Die Unsinnigkeit künstlicher Lernsituationen vor allem im Säuglingsalter

Langfristig wird dein Kind erfahren, dass die Personen um es herum – also auch du – ebenfalls Bedürfnisse haben, die an einem gewissen Punkt nicht hintenanstehen können und ebendiese ggf. Vorrang vor seinen haben. Auch, weil es die kognitive Leistung dafür immer besser erbringen kann, die Furstrationstoleranz größer wird.

Dieses Lernen steht zudem in engem Zusammenhang mit der schrittweisen Ablösung von dir. Mit der Erfahrung, dass du eine eigenständige Person bist, während es selbst auch eine eigenständige Person ist. Schrittweise und je kleiner die Füße, desto kleiner die Schritte, könnte man sagen.

Das ist das Leben und genau deshalb musst du im Vorfeld keine künstlichen Lernsituationen schaffen. Schon gar nicht „rechtzeitig“, denn wann es diese richtige Zeit ist, ist eben an die Bindungserfahrung und die daraus folgende Entwicklung geknüpft. Denn es gilt: Bindung vor Bildung!

Bedürfnis vs. Wunsch

Dass manche Bedürfnisse keine sind, sondern Wünsche, ist ebenfalls ein natürlicher Lernprozess. So ist „Durst haben“ ein Bedürfnis. Diesen Durst jedoch mit Limonade löschen zu wollen und nicht mit dem gerade vorhandenen Wasser, ist ein Wunsch. Manche Wünsche können ad-hoc erfüllt werden, andere erst später und wieder andere bleiben Wünsche.

Das zu verstehen ist zunächst schwer. Darüber wütend zu sein in Ordnung, und ganz im Ernst: bei 35 Grad im Schatten lösche ich persönlich meinen Durst auch viel lieber mit einem erfrischenden Apfelsaftschorle, als lauwarmen stillen Wasser. Du auch?

Daher meint eine bedürfnisorientierte Erziehung oder Begleitung ≠ Weichspülpädagogik, denn es geht eben nicht um Wunscherfüllung! Sondern um eine liebvolle Haltung, die erwachsen ermöglicht, neugierig bleibt und sorgsam mit den Bedürfnissen aller umzugehen versucht. Die die Bedürfnisse aller in den Blick nimmt, beständig abwägt, Wissen gleichwertig betrachtet und Verantwortung auch jenseits von Konformität und Anpassung übernimmt. Ein Kinderspiel, stimmts? 😉

Entspannt auch wenn es stressig ist – leicht gesagt

Die Devise lautet also erst einmal entspannen und Ruhe bewahren ob gut gemeinter Ratschläge und Selbstfürsorge betreiben, denn dein Bauchgefühl ist vielleicht gar nicht sooo falsch, kann aber gerne mal durcheinanderkommen und spiegelt sich vor dem Hintergrund deiner eigenen Erziehungserfahrung.

Die Frage lautet: welche Beziehung willst du zu deinem Kind haben und welche Erfahrungen willst du weitergeben? Wie soll sich dein Kind fühlen? Sicher, wertvoll, richtig?

Du stillst die Bedürfnisse deines Babys prompt und angemessen, verstehst seine Signale immer besser? Prima, ihr seid auf einem guten Weg. Perfekte Eltern braucht kein Kind.

Deine Belastung ist dennoch enorm und du bist dir unsicher, wie du Entlastung finden kannst ohne seine Bedürfnisse übergehen zu müssen? Wie du auch deinen Bedürfnissen als Frau und Partnerin wieder gerecht werden kannst? Oder du hast ganz andere Fragen zu deinem, eurem Alltag?

Dann können wir gerne darüber sprechen. Von außen betrachtet finden sich häufig Wege und Möglichkeiten, die einem selbst oft verborgen bleiben. Manchmal entlastet schon zu hören, dass man nicht allein ist.

Achte gut auf dich.
Sabrina

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